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Moka Efti Orchestra – Erstausgabe

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Manchmal dreht sich die Welt auf eigenartige Weise. Dinge passieren, die man unmöglich vorhersehen kann. Als der Regisseur Tom Tykwer im Jahr 2016 den Musiker und Komponisten Nikko Weidemann bat, sich um die Szenenmusik für die Serie „Babylon Berlin“ zu kümmern, ahnte wohl keiner von beiden, dass daraus drei Jahre später ein eigenständiges Orchester gedeihen würde, dessen Debütalbum „Erstausgabe“ wie ein Knotenpunkt der populären Musik der letzten einhundert Jahre klingt.

Und doch kam es so.

Zusammen mit dem Musiker-Komponist Mario Kamien schrieb Weidemann das von Moka Efti-Musical Director Sebastian Borkowski arrangierte „Zu Asche, Zu Staub“, das wie ein wild funkelndes Amalgam aus Kurt Weill und Frankie goes to Hollywood klingt. Doch es passte nicht nur perfekt zu der SKY/ARD-Serie, sondern setzte auch gleich noch etwas ganz anderes in Gang. Denn die Brechung der Musik der 20er-Jahre, das Zulassen jedweder Einflüsse, erwies sich schnell als glückliche Fügung. Es war, als würden alle beteiligten Musiker einen Zaubertrank anrühren, der mit jeder Ingredienz immer eigenwilliger wurde, besser schmeckte und der immer schönere Auswirkungen hatte.

Und so liegt jetzt eine „Erstausgabe“ im wahrsten Sinne des Wortes vor. Welche Platte kann schon von sich behaupten – als sei es das Natürlichste auf der Welt – in einem 50-minütigen musikalischen Atemzug gleichzeitig Erinnerungen an Friedrich Hollaender, die Dexys Midnight Runners, deutschen Indie-Pop, Ry Cooder, Cab Calloway und Nick Cave wach werden zu lassen?

Der Letztgenannte zum Beispiel scheint in der zweiten Single des Albums, „Snake“, Arm in Arm mit Frank Sinatra und Nina Simone durch das Lied zu schlendern, das erneut „Zu Asche“-Sängerin Severija intoniert. Bereits die erste Auskopplung „Süsse Lügen“ trägt Höchste Eisenbahn-Sänger Moritz Krämer nonchalant aus dem Ballsaal rüber in das Café, wo die Indie-Slacker abhängen. Kein alglatter Hans Albers steht hier in Pose vor den Musikern in Frack, sondern der Typ mit der Selbstgedrehten und dem Second-Hand-Nicki.Das Moka Efti Orchestra ist Revue, aber nach eigenen Regeln. Musik aus einer untererzählten, geheimnisvollen Zeit.

Für alle beteiligten Musiker war das eine Einladung, die sich keiner entgehen lassen wollte. Alle hatten schnell das Gefühl, mit den Liedern persönlich zu tun zu haben. Der große Bogen, der geschlagen wurde, bot jedem die Gelegenheit, seine ganz eigenen (pop-)musikalischen Erfahrungen in die Waagschale zu werfen. Wovon auch reichlich Gebrauch gemacht wurde. Sei es im Banjo-getriebenen „Frenzy“, in dem das Orchester klappert und röhrt oder bei „Rainbow“, einem Song, der wie eine Leihgabe vom Elvis Costello-Burt Bacharach-Album „Painted from memory“ anmutet. Dann wiederum reduziert sich das Orchestra auf einmal auf eine einsame Unterstützung für Sänger Roland Satterwhite im „Crocodile Blues“, der auch mühelos als Untermalung für Harry Dean Stantons Marsch durch die Wüste in „Paris, Texas“ taugen würde. Und wollte einem jemand erzählen, das sei Stephan Sulke, der in der Mitte von „Tschuldigensemal“ aus einem seiner 70er- Jahre Klassiker heraus lugt, fiele es schwer, diese These zu widerlegen.

Natürlich landet das vielköpfige Orchester – satt ausgestattet mit feinsten Musikern – immer wieder bei dreigroschenopernhaften Passagen, Paul Lincke grüßt hier und da mit dem Hut und Lieder wie „Lange Beene“ sind schon qua ihres Titels tief im letzten Jahrhundert verwurzelt. Und doch merkt man allen Beteiligten an, dass sie Jahrzehnte an Erfahrung in allen möglichen und unmöglichen Musikstilen mit sich herum tragen und auf dieses Album streuen wie exotische Gewürze.

Die vielleicht überraschendste Wendung in dieser Geschichte ist die Tatsache, dass das Herausholen aus der Nische, das Erweitern und Ausstaffieren der tief vergrabenen Musik und Kultur, so schnell und so euphorisch von einem sehr breit gefächert Publikum honoriert wird. Längst der Serie „Babylon Berlin“ entwachsen, stapft das Moka Efti Orchestra munter durch die Welt und erzählt uns von dem, was auf der Erde in den letzten Jahrzehnten musikalisch geschah. Ja, „Was bisher geschah“ wäre ein ebenso treffender Albumtitel. Die Konzerte seit ihrem Debüt im Mai 2018 waren allesamt ausverkauft und nächstes Jahr scheint es für das Moka Efti Orchestra auf Konzertreise nicht minder erfolgreich weiterzugehen. Gut so. Denn die Kiste vom Dachboden wurde gerade mal entstaubt, geöffnet und – so mutet es an – nur die erste Handvoll Lametta zutage gefördert.